Im Spiel wird der Spieler in seiner Entscheidungsfreiheit durch zwei Dinge eingeschränkt: die Regelebene und die Erzählebene. Es gibt zum einen die Regelebene, die es etwa nicht zulässt dass ein Warhammer Anfangscharakter mehr als 20 Lebenspunkte besitzt. Es gibt aber auch die Erzählebene, die es etwa nicht zulässt, dass ein Charakter völlig aus Käse besteht.
(Da beide Einschränkungen auf die gleiche Art und Weise in der Gruppe geltend gemacht werden, könnte man sie auch als gleichwertig betrachten - wie ich es in einem älteren Eintrag schon mal getan habe. Aber in der Praxis differenzieren die Meisten zwischen "Regeln" und "Erzähltem", daher werde ich versuchen diese Trennung hier ebenfalls zu benutzen.)
Es scheint mir, als ob Probleme nicht zwingend dadurch entstehen, dass jemand die Regeln als bindender ansieht als die Erzählung oder umgekehrt. Konflikte und Schwierigkeiten scheinen oft vorprogrammiert, wenn Uneingkeit darüber herrscht wie man Regeln und Erzählung gewichtet. Sobald man mit dem einen oder anderen Aspekt merklich loser umgeht, verliert dieser an Wirkung und Bedeutung im Spiel. Wer Regeln nach Lust und Laune umschreibt oder ignoriert, der wird entdecken, dass der Teil des Spiels schon bald kein Interesse mehr hervorrufen wird. Wie man eng nach den Regeln spielt, ist in den meisten Fällen klar und bedarf hier keiner weiteren Erklärung. Darüber wird andernorts schon ausgiebig debattiert und geschrieben.
Interessanter finde ich die Frage, wie das Erzählte im Spiel wirkt. Was sind diese "Regeln des Erzählten"? Um Verwirrung zu vermeiden, werde ich sie nicht "Regeln des Erzählten" nennen sondern kurz Axiome. Diese setzen sich meiner Meinung nach aus drei Komponenten zusammen, wobei auch hier jede Spielrunde diese Dinge anders gewichtet.
1) Die Art der Situationen, mit der die Spieler konfrontiert werden; die Umgangsformen der Charaktere und der übliche Ablauf an Ereignissen lassen sich aus dem Grundbuch und ggf. den Zusatzbänden ableiten. Das Hintergrundmaterial, die optionalen Elemente und Beschreibungen zeichnen meist ein Bild einer "typischen" Spielrunde ab und dienen dem Leser als Einstiegshilfe in das Axiom des Spiels.
2) Rollenspielfremde Quellen, wie etwa Bücher, Filme, TV usw. können auch benutzt werden, um Axiome zu bilden. Das bekannteste Beispiel ist mit Sicherheit Call of Cthulhu, Lord of the Rings oder Star Trek. Hier werden Texte zu Rate gezogen, die nicht für das Rollenspiel bestimmt sind, um daraus das Axiom des Genres abzuleiten.
3) Etwas, dass in vielen Spielrunden als selbstverständlich gilt, ist die Bindung an vorherige Ereignisse im Spiel. Widersprüche werden selten geduldet. Die Gruppe versucht das Erzählte widerspruchsfrei zu halten. Hier kann man vom Axiom der Fiktion sprechen.
Daraus bilden die Gruppe die Axiome für die Spielrunde. Man sollte hier beachten, dass diese Axiome fast immer unausgesprochen ausgehandelt werden. Sie treten vielmehr beim Spielen auf und ergeben sich aus den Handlungen bzw. Erzählungen der Spieler. Aus den Annahmen, dem Vorwissen und den Gewohnheiten der einzelnen Spieler setzen sich Stück für Stück die Axiome zusammen.
Das größte Problem scheint auf den ersten Blick zu sein, dass diese Axiome nirgendwo aufgeschrieben werden und Missverständnisse so unausweichlich scheinen. Das ist jedoch kein Stolperstein, sondern eine versteckte Stärke des Rollenspiels. Am Spieltisch nimmt jeder Spieler diese Axiome wahr (wenn er sie auch selten verbalisiert), und wenn er das nötige Sozialverhalten besitzt, versucht er sie mit seinen Spielerhandlungen und Erzählungen zu vereinbaren. (Stichwort: 'so macht man das hier also') Wenn man das voraussetzt, so führen die individuellen Vorstellungen der Axiome zu einem sehr eigenständigen und originellem Resultat. Die Fiktion des Spiels entwickelt so einen Charakter, der der Spielgruppe zu eigen ist und gerade kein Abziehbild irgendwelcher Buch- oder Filmerzählungen. Ich zumindest finde das sehr reizvoll.
Diese Bildung der Axiome findet meist im Hintergrund statt und ist darum nur schwer vom normalen Umgang miteinander zu trennen. Aber eigentlich muss man diesen Axiomen auch keine Aufmerksamkeit schenken, es sei denn jemand kommt auf die Idee 'mal was anderes zu spielen'. Dann sollten diese Axiome neu verhandelt werden. Tut man das nicht so führt es dazu, dass das 'andere' Spiel sich genauso anfühlt wie das alte. Oder im schlimmsten Fall völlig unspielbar wirkt, weil das Erzählte sich nicht auf die gleiche Art und Weise in den Spielverlauf einfügt wie man es gewohnt ist. Das Paradebeispiel hierfür ist, denke ich Primetime Adventures. Ein Spiel, das vollkommen aus dem Ruder läuft, wenn man Dinge genauso erzählt, wie in der hauseigenen DSA-Runde.
Im Gegensatz zu den Regeln (über die der SL wacht und über deren Gültigkeit der SL entscheidet) liege die Axiome meist in der Hand der Spieler. Das Klischee der Spielergruppe, die sich nicht um den angemessenen Umgangston ihrer Charaktere bei Hofe kümmert oder deren Figuren von Spielrunde zu Spielrunde andere Charakterzüge aufweisen ist das bekannteste Beispiel einer Spielrunde, in der die Spieler den Axiomen wenig bis keine Bedeutung beigemessen haben. Das andere Extrembeispiel ist der "Settingfetischist" (wie er etwa beim Lord of the Rings oder Star Trek Rollenspiel befürchtet wird), der jede abweichende oder zum Haupttext im Widerspruch stehende Erzählung bemängelt und kritisiert. Auffällig sollte hier sein, dass die Probleme vor allem entstehen, weil der Rest der Gruppe anderer Meinung ist.
Es gibt einige Spiele, die einzelne Axiome in den Regeln verankern. Dadurch werden die Spieler zum Teil entlastet. Gerade wenn sie sich bei den Axiomen unsicher fühlen (weil sie den Hintergrundtext nicht kennen, mit dem Genre nicht vertraut sind oder einfach wenig Erfahrungen mit Rollenspielen haben), können solche Hilfestellungen nützlich sein. Sie machen es den Spielern oft etwas einfacher gut bzw. passend zu erzählen. Andere können sich dadurch jedoch in ihrem Spielinteresse beschnitten fühlen. So gibt es auch Spieler, die großen Wert darauf legen mit und nach eigenen Axiomen zu spielen.
Die Frage nach dem passenden Regelwerk für ein bestimmtes Buch/Film/etc. ist oft eine Frage nach der Möglichkeit entsprechende Axiome in der eigenen Runde geltend zu machen. Es stellt sich die Frage, ob man hier nicht besser beraten ist auf sämtliche Axiome zurückzugreifen (sich ihrer Funktion bewusst zu machen und die Spieler auf ihre Aufgaben dahingehend hinzuweisen), statt sich allein auf die Axiome des Spiels zu reduzieren.
Montag, Oktober 08, 2007
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2 Kommentare:
Ein schöner Text! Werd' ihn gleich mal als Grundlage für die nächste Diskussion um den "Gruppenvertrag" durchreichen. Zwei Ergänzugen hätte ich allerdings noch:
Erstens würde deinen drei Komponenten noch eine "sozial - situative" hinzufügen, weil die Grenzen des Erzählbaren oft auch dadurch verschoben werden, dass man Spieler XY nicht seine Szene versauen möchte, oder man genau weiß, dass der Spielleiter mit einer bestimmten Aktionen überfordert wäre. Es wäre natürlich auch denkbar, diese Mechanismen im "allgemeinen Umgangston" oder dem Auslegen der Axiome unterzubringen, aber zumindest ich würde sie als eigene Komponente bewerten.
Zweitens wollte ich noch auf eine Schwierigkeit hinweisen, die ich in deiner zweiten Komponente sehe: Genres sind nur in den seltensten Fällen so klar erkennbar, dass man einen verbindlichen Kanon "rollenspielferner Quellen" aufstellen könnte. Ein Spieler, der sich gerade an 'Conan' orientiert, könnte Schwierigkeiten haben, mit seinem 'Herr der Ringe' - beeinflussten Mitspieler klarzukommen. Hierin liegt zwar auch eine interessante Chance für die Verhandlung der Axiome (die ich genau wie Du, sehr reizvoll finde), aber auch ein Problem, dass dann akut wird, wenn die beiden Spieler gar nicht nachvollziehen können, warum sie gerade aneinander vorbei reden.
Dieser Komponente wäre darum besondere Aufmerksamkeit zu widmen, wollte man den Versuch anstellen, eine "misslungene" Spielsituation mit Hilfe deiner Axiome zu untersuchen.
Hallo Paule!
Es stimmt natürlich, dass der "sozial-situative" Aspekt (den ich immer als Gruppendynamik bezeichne) auf die Bildung der Fiktion wirkt. Ich habe ihn allerdings ausgeklammert, da ich mich allein auf die Axiome beziehen wollte, die aus der Fiktion entnommen werden.
Dass die Axiome dabei nicht klar und deutlich von einander getrennt agieren, macht die Sache in der Tat sehr kompliziert. Ich kämpfe gerade an einem neuen Eintrag in dem ich den Axiom-gedanken wieder aufgreife und weiterentwickele und da spreche ich auch an, dass es oft eine ständige Wechselwirkung zwischen Axiomen gibt, und diese selten klar fassbar sind. Das halte ich jedoch nur für ein Problem beim Versuch den Vorgang in Worte zu fassen, in der Praxis läuft das alles sehr viel flüssiger und führt in der Regel an anderen Punkten zu Konflikten.
Die Trennung zwischen Rollenspieltexten und rollenspielfernen Quellen, soll nur helfen diesen sehr dynamischen und wechselseitigen Vorgang etwas zu öffnen und anschaulicher zu machen. Es ist nicht wichtig ob einzelne Texte in die eine oder andere Kategorie gehören. Es reicht allein zwischen ihnen zu unterscheiden, um zu erkennen dass man diese getrennt stark in seinem Spiel betonen kann.
Man kann sowohl viel Wert auf z.B. Setting-nahes Spiel legen (also Rollenspieltexte stark ins Spiel einbinden) und gleichzeitig Einflüsse aus der Schauspielkunst oder Filmdramaturgie einbringen. Oder nur eins davon. Es ist sogar möglich sich auf keine der beiden Quellen zu stützen und trotzdem für die Gruppe interessante und motivierende Fiktion zu erspielen.
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