Rollenspiele sind unfertige Spiele. Nicht weil die Regeln so unausgegoren sind, dass man sie andauernd verändern oder erweitern muss. Auch nicht weil Verlage über Erweiterungsbände und ähnliches versuchen ihre Gewinnspanne zu erhöhen und deshalb viele Rollenspieler zu Rollenspielsammlern erzogen werden. Rollenspiele sind unfertige Spiele weil ein wichtiger Bestandteil des Spiels nicht im Spiel enthalten ist, sondern durch die Spielergruppe selbst gestellt wird. (Nein, ich meine auch nicht Bleistifte. Wer bloggt schon über Bleistifte?)
Die Rede ist natürlich von der Fiktion des Spiels, d.h. die Summe aller Ereignisse, Handlungen und Beschreibungen, die die Spielwelt am Tisch ausmachen. Kurz: alles was SL oder Spieler sagen und sich vorstellen. Angefangen bei den Charakteren, der Welt in der sie sich bewegen, den Figuren denen sie begegnen, die Situationen in die sie geraten bis hin zu den Dingen, die sie tun und die Folgen die diese Dinge nach sich ziehen. Das Einzige was ein Regelwerk leistet ist die Grundlagen für diese Dinge zu liefern und einen groben Spielablauf vorzugeben.
Das wird von manchen gern übersehen oder in seiner Bedeutung für die Spielrunde heruntergespielt, weshalb viele gerne dem Irrglauben verfallen, dass (je nach Präferenz) Regeln oder Hintergrund vernachlässigbar wären. Nichts könnte falscher sein.
Es steht außer Frage, dass Gruppen ihre eigenen Regeln oder Hintergründe benutzen können; aber auf die Funktion, die diese beiden Elemente erfüllen, kann keine Rollenspielrunde verzichten. Durch den Hintergrund und die Regeln werden die notwendigen Grundlagen gestellt, die ein Rollenspiel erst möglichen machen.
Um sich dieser Funktionen klar zu werden, muss man sich erst mal von vielen gängigen Annahmen über Regeln und Hintergrund lösen. Regeln sind keine Richtlinien wie man sich einigt, was in der Spielwelt passiert. Regeln sind keine Relikte aus der Ära der Miniaturenspiele aus der sich D&D entwickelt hat. Regeln sind kein Korsett in dass sich die Spiellust der Gruppe zwängen muss, und dass man sich mit Hausregeln und gefälliger Interpretation zu eigen machen muss. Regeln sind selbstverständlich keine Simulationsmaschine für die Spielwelt.
Regeln sind die DNS des Spiels. Sie bilden das notwendige Skelett, das von den Spielern erst zu einem vollständigen Rollenspiel gemacht wird. Erst wenn diese DNS in Fiktion eingebettet wird, kann man von einem Rollenspiel sprechen. Wobei allein die unausgesprochene Vorstellung des einzelnen Spielers ausreicht, um von Fiktion zu sprechen. Anders gesagt, schauspielerische Einlagen oder eloquente Beschreibungen sind zwar üblich und gern gesehen, stellen aber keine notwendige Eigenschaft des Rollenspiels dar. (Auch wenn ich ohne sie weit weniger Spaß am Hobby hätte.)
Ich nenne sie auch DNS, weil sie den gesamten Spielablauf durchziehen, ohne ihn dabei exakt vorzuschreiben wie es etwa bei Brettspielen der Fall ist. Vielmehr bildet er sich aus dem Regelgebrauch und dem Umfeld (der Fiktion) heraus. Eine Stärke-Probe allein ist fast bedeutungslos und sagt nichts über den Fortgang der Spielrunde aus. Eine Stärke-Probe, um zu bestimmen ob der Zwerg das Geröll am Ausgang der Höhle entfernen kann, hat weit schwerere Auswirkungen darauf, wie das Spiel weitergehen wird.
Genauso verliert die Fiktion an Bedeutung, wenn sie sich nicht auf das Gerüst bezieht, dass ihr durch die Regeln gestellt wird. Wenn jeder Spieler willkürlich darüber entscheiden könnte, was seinem Charakter gelingt oder misslingt, würde nichts was im Spiel geschieht einen Wert haben.
Was hat es dann mit den 'regellosen' Spielrunden auf sich? Den gerne und oft zitierten großartigen Rollenspielerlebnissen, in denen die Regeln vollkommen in den Hintergrund traten oder gar nicht zum Einsatz kamen? Ist das etwa gar kein Rollenspiel? Ist dieser Eintrag etwa nur ein weiterer Versuch zwischen gutem (lies: so wie ich spiele) und schlechtem (lies: so wie die Leute spielen, die ich nicht mag) Rollenspiel zu trennen? Selbstverständlich nicht. Es lauert auch kein Buchstabenkürzel in den folgenden Absätzen, das man selbstgefällig als rhetorische Waffe einsetzen soll, um anders Spielende mundtot zu machen
Die angesprochenen Beispiele zeigen keinen Gegensatz zum Rollenspiel, sondern zeigen auf wie die von den Spielern erschaffene Fiktion die Funktion der Regeln in sich aufnehmen und den Gebrauch der Regeln so ersetzen kann. Es ist weniger ein Verzichten auf Regeln, als vielmehr ein Gebrauch von Regeln, die in die Fiktion eingewoben sind. Auch hier muss noch mal daran erinnert werden, dass Fiktion in diesem Fall auch die individuellen Vorstellungen der Spieler miteinbezieht und nicht allein die Spielwelt beschreibt wie sie von allen Spielern akzeptiert und abgesegnet wurde.
Ich bin der Meinung, dass diesem Teil des Rollenspiels nicht die gleiche Aufmerksamkeit, zumindest nicht die gleiche Sorgfalt, entgegengebracht wird wie den Regeln. Dabei ist gerade dieser Teil von besonderer Wichtigkeit, wenn man als Spielergruppe sich ein wenig von den Vorgaben des Autors lösen möchte. Man muss sich bewusst machen wie der von Spielern erschaffene Inhalt entsteht, auf das Spiel wirkt und durch das Spiel entwickelt wird. Ich werde versuchen in den folgenden Einträgen einige meiner Beobachtungen dazu festzuhalten.
Montag, Oktober 29, 2007
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3 Kommentare:
Deine Aussagen hängen natürlich zum Teil am unterschiedlichen Gebrauch des Begriffes "Regel". Aber ich verstehe was du meinst und stimme dir voll zu. Ich sehe das ähnlich.
Für mich ist die Gruppenebene ebenfalls die bedeutendste Ebene in der sich das Rollenspiel entwickelt und entwickeln muss.
Dies wurde bisher weniger von Rollenspielen beachtet, da der Autor eines Systems natürlich eine andere Sicht hat. Ihm geht es um die Entwicklung der Spiellinie (mehr Regeln, Metaplot usw.)
Was deinen Fiktionsbegriff angeht, denke ich herrscht auch Konsens. Deshalb hat sich ja der Begriff Fiktion gegenüber dem SIS ausgeprägt.
Diese erweiterte "Fiktion" ist sicher noch ein sehr interessanter Untersuchungsgegenstand.
PS: Übrigens ist da bei dir ein Fehler im vorletzten Absatz, da ist was vom Javascript reingerutscht.
Danke, der Fehler ist bereinigt.
Was die Autorensicht angeht, bin ich nicht ganz so nachsichtig. Ich denke, dass da einfach ein essentieller Teil des Spiels vernachlässigt bzw. den Spielern aufgehalst wird. "Denkt euch einfach was aus."
Das ist aber nur die halbe Wahrheit. Denn was man sich ausdenkt muss auch im Rahmen des Spiels funktionieren. Mit Ausnahme einiger kruder Behelfsmittel ("Der SL hat immer Recht.", Realismus-anspruch, etc.) muss jede Gruppe irgendwie selbst herausfinden wie sie Fiktion erschafft, die sich mit dem Spiel vereinbaren lässt (und den eigenen Interessen entspricht). Ich finde hierhingehend lässt sich noch viel Hilfestellung leisten, um die Erzähl- oder Spiellust der Gruppe zu unterstützen.
Gegenüber den Autoren bin ich auch nicht nachsichtig. Das sollte keine Rechtfertigung der Autoren sein, nur eine Erklärung.
Ich halte es wie gesagt auch für sehr wünschenswert, dass Systeme in Zukunft auf das Entwicklungspotential innerhalb der Gruppe Bezug nehmen und diesen Prozess nicht nur als notwendiges Übel sehen, sondern ihn auch stützen oder sogar ins Zentrum des Spiels rücken.
Manche "Universalsysteme" haben auch bereits solche Ansprüche, obwohl meist der Aspekt der Anpassung an Settings betont wird, und nicht der der Anpassung an Bedürfnisse der Gruppe, die sich eventuell erst durch das Spiel ergeben oder wandeln.
Das ist allerdings eine schwierige Sache. Während in "freier Wildbahn" solche Gruppenprozesse über Jahre der impliziten und expliziten Kommunikation ablaufen, müsste ein System dazu in der Lage sein den Anpassungsprozess so zu kanalisieren, dass innerhalb einer Sitzung bereits sinnvolle Ergebnisse zu sehen oder zumindest zu erahnen sind.
Außerdem betrifft der Prozess nicht nur die Fiktion sondern auch ihre Bedeutung, wie du ja auch schon selbst im Artikel sagst. Damit muss der ganze Personalisierungsprozess aber auch die Regeln selbst betreffen.
Die Regeln wären dann also nicht mehr wirklich die DNS, die als Basis unverändert bleibt, sondern eher so etwas wie der Keim einer Entwicklung, der selbst nur ein Ausgangspunkt einer Entwicklung ist, aber in der Form nicht erhalten bleibt.
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